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DOI: 10.1055/s-0029-1220432
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Hat die Ernährung den Krankheitsverlauf bei Intensivpatienten verbessert?
Persönliche Erfahrungen eines Intensivmediziners zur ErnährungstherapieIs the Course of Disease Improved by Artificial Nutrition of Intensive Care Patients?Intensivist's Personal Experiences with Nutrition TherapyPublication History
Publication Date:
09 September 2009 (online)

Historische Vorbemerkungen
Vor ca. 50 Jahren mussten die Intensivmediziner (zumeist Chirurgen und Anästhesisten) mit einfachen Mitteln Schwerkranke behandeln und deren Leben „retten”: Tuben aus Gummimaterial, mechanische, laute Beatmungsgeräte und kaum ein invasives Monitoring ([Abb. 1]). Die „künstliche Ernährung” erfolgte vorerst nur über periphere Venenzugänge (Venaesectio) und es gab noch keine Mischbeutel. Eine enterale Ernährung kam aus chirurgischer Sicht kaum infrage und es gab auch keine geeigneten Sondennahrungen („home made” mit nicht standardisierter Zusammensetzung) und Sonden (dicke Gummisonden – Witzel-Fistel).
Abb. 1 Chirurgische Intensivstation der Klinik Innsbruck (1968).
Die Intensivmedizin hat sich rasant gewandelt, sie ist zu einer „High-tech”-Medizin geworden, die nicht immer ganz unumstritten ist. Modernste Beatmungsgeräte inklusive extrakorporaler Oxygenierung und Kreislaufunterstützung, Organersatztherapien, Gerinnungsfaktoren, Mediatoren und Hormone, Kreislaufmedikamente, Antibiotika usw. sind nicht wegzudenkende Bestandteile der Intensivtherapie. Die Diagnostik umfasst das invasive Monitoring (Herzzeitvolumenbestimmung [HZV], Pulmonalisdruck, O2-Messung usw.), die Sonografie, das Computertomogramm (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRI) neben modernsten Laborverfahren; all dies geht in ein PDM-System (Patienten-Daten-Management) ein. Mit diesen Veränderungen hat sich auch die Ernährungstherapie gewandelt. Zahlreiche neue Erkenntnisse haben zu verschiedenen Veränderungen in der Therapie geführt.
Eines hat sich aber nicht gewandelt, dass die Erkrankung, die zu einem Intensivaufenthalt führt, sich auf den Stoffwechsel und den Ernährungszustand auswirkt. Der vielfach erhöhte Energiebedarf durch die Erkrankung (Katabolie) und das Unvermögen Nahrung aufzunehmen (Nahrungskarenz) führen zur Mangelernährung. Diese und die Immobilisierung verursachen Sarkopenie und schließlich Kachexie. Während in den 70er-Jahren hauptsächlich Patienten mit Sepsis nach Abdominalchirurgie, Tetanuserkrankungen, Polytraumen und schweren Schädel-Hirn-Verletzungen mit vegetativen Entgleisungen, ausgedehnten Verbrennungen und Intoxikationen intensivmedizinisch behandelt wurden, sind es heute kardiochirurgische Patienten, Polytraumen, Patienten nach Organtransplantationen und mit malignen und systemischen Erkrankungen. Durch die Möglichkeit des Organersatzes (extrakorporaler Kreislauf und Oxygenation, Hämofiltration usw.) können heute Patienten mit Multiorganversagen (MOV) vermehrt erfolgreich behandelt werden.
Wichtig in diesem Zusammenhang waren auch die Erkenntnisse über das Postaggressionssyndrom, das 1930 von Hoff als „Phänomen der vegetativen Gesamtumstellung” und 1950 von Moore als „Postaggressionssyndrom” beschrieben wurde. Seit 1988 spricht man vom „Gesamtkörperinflammationssyndrom” bzw. „SIRS (systemic inflammation response syndrome)”. Ein heute noch bestehendes Schema zeigt die einzelnen Phasen des Postaggressionssyndroms („ebb, flow, gain phase”) und beschäftigt sich mit den verschiedenen hormonellen Wechselwirkungen und den daraus folgenden Stoffwechselveränderungen. Der Einfluss der Mediatoren wurde erst später erkannt. Im Vordergrund steht jedoch der Eiweißstoffwechsel mit der Katabolie, wobei die Harnstoffproduktionsrate als Ausdruck des Eiweißabbaus sich durch die therapeutischen Maßnahmen kaum beeinflussen lässt. Die Abnahme der Muskelmasse, gemessen mit dem Kreatinin-Höhen-Index, zeigt die Katastrophe auf.
Mit den Problemen der Ernährung hat man sich jedoch schon sehr früh beschäftigt. Im Altertum (Talmud, Hippokrates usw.) gehörte zur „Diät” neben der maßvollen Ernährung auch der vernünftige Lebenswandel. Paracelsus und Maimonides haben das Ernährungswissen weiterentwickelt, Sir Chr. Wren hat 1756 wahrscheinlich die 1. Infusionstherapie (Bier bei Hunden) durchgeführt. Mit den Kenntnissen des Kreislaufs und der Verbrennung (Lavoisier) wurde der Weg zur Infusionstherapie geebnet. Besonders die Seuchen (Cholera) und Kriege (H. Dunant) führten zu den Anfängen der intravenösen Flüssigkeits- und Ernährungstherapie (Zucker- und Kochsalzlösungen, Bier, Öle). Die parenterale Zufuhr erfolgte vielfach subkutan. Im 20. Jahrhundert kam es zu einer raschen Entwicklung der parenteralen Ernährungstherapeutika: Monosaccharide, Proteinhydrolysate (Elman) und nach dem letzten Weltkrieg die Fettemulsionen (Wretlind). Hierzu haben zahlreiche Physiologen, Chemiker und Ärzte die Grundlagen erarbeitet: ca. um 1900 die Errechnung des Grundumsatzes, ca. 1920 biologische Wertigkeit von Protein und Aminosäurenmuster usw.
Mein 1. Kontakt zur Infusionstherapie und parenteralen Ernährung erfolgte ca. 1968 mit der „Praxis zur Flüssigkeitstherapie” von Hans Reissigl, dies hat auch mein weiteres Wirken geprägt. Für Tetanuspatienten und Patienten mit „vegetativem” Syndrom wurden Energiemengen zwischen 6000 und 9000 kcal je Tag gefordert, die gebräuchlichen Infusionslösungen hatten ca. 3000 kcal in 6,5 l Flüssigkeit (3,3 %ige Aminosäuren-, 10 %ige Fett- und Alkohollösungen).
Prof. Dr. Johann Michael Hackl
Klinik für Allg. und Chirurgische Intensivmedizin der Universität Innsbruck
Innrain 98
6020 Innsbruck, Österreich
Email: johann.hackl@azw.ac.at